Es gab in Braunschweig einst eine kleine beschauliche Lesebühne namens »Bumsdorfer Auslese«, wo ich zusammen mit sechs anderen Autorinnen und Autoren alle zwei bis vier Monate meine neuesten Texte vortrug. Als ich dort eine Geschichte zum Besten gab, in der ich beiläufig mein Alter erwähnte, fühlte sich eine Autorenkollegin zu einem lauten Zwischenruf genötigt: »Ist das wahr, Holger? Bist du echt schon so alt?«
     Es war einer dieser sonderbaren Momente, von denen man nicht weiß, ob man sich über sie freuen kann oder nicht. Warum überraschte sie mein Alter? Warum musste sie meinen bis dato mühsam gesammelten 46 Lenzen mit ihrem Zwischenruf mehr Gewicht geben, als mir lieb war? Hatte ich mir etwa ein jugendliches Aussehen bewahrt, ein frisches Outfit, das mich jünger erscheinen ließ als ich war? Oder fand es die ca. 15 Jahre jüngere Kollegin befremdlich, mit einem Oldtimer auf der Bühne stehen zu müssen?
     Einen Vorwurf würde ich daraus natürlich nicht formulieren wollen. Im Gegenteil. Wenn ich auf Geburtstagsfeiern von Frauen älteren Semesters eingeladen bin, wünsche ich den Gastgeberinnen – mehr Ironiker als Charmeur – alles Gute zu ihrem »24. Geburtstag«, wohl wissend, dass sie mindestens schon doppelt so alt sind. Die Beglückwünschten fühlen sich danach nur selten geschmeichelt und antworten mit Sätzen wie: »Oh, so etwas höre ich gern aus dem Mund eines 19jährigen.« Oder: »Danke schön! Meine Tochter hat aber erst nächsten Monat Geburtstag.«
     Es ist schon bemerkenswert, welche Ausstrahlung so eine Zahl haben kann. Zwar beteuern ältere Menschen gern und oft, dass eine Zahl nur eine Zahl sei und diese nichts zu sagen habe, doch die Einladungs- und Glückwunschkarten, die man absondert bzw. erhält, wenn man einen runden Geburtstag feiert, sprechen eine andere Sprache, vornehmlich die berühmter Schriftsteller: »40 sind das Alter der Jugend, 50 die Jugend des Alters.« Mit freundlichen Grüßen, Ihr Victor Hugo. Solche Weisheiten schmeißt man dem reifen Jubilar gern um die Ohren, und auch hier rätselt man als Empfänger, ob man sich darüber freuen kann oder nicht.
     Eine Ausnahme mag der 42. Geburtstag sein, weil man dann in Anlehnung an einen berühmten Roman von Douglas Adams, Per Anhalter durch die Galaxis, behaupten kann, man sei nun die Antwort auf das Leben, das Universum und den ganzen Rest. Haben alle, die das Buch kennen, über diesen schlappen Witz gelacht, ist man auch schon 43, und dann sieht man nur noch die 50, wie sie in der dunklen Ecke auf einen lauert und einen bedroht, diese Eintrittskarte ins Seniorenalter. Oh ja, die 50, diese Zahl steht für eine Grenzüberschreitung, für ein Schild mit der Aufschrift No Way Ahead, wobei man natürlich weiß, dass es hinter dem Schild noch weitergeht, allerdings nicht mehr so komfortabel wie bisher, sondern recht holprig, und wer weiß, wie lange noch …
     Dass die 50 ein signifikantes Alter sind, verdeutlicht eine Kurzgeschichte des amerikanischen Schriftstellers T.C. Boyle. Seine Story Abwärts (Orig.: Going Down) erzählt von einem Mann, der kurz nach seinem 50. Geburtstag im Zimmer seines Sohnes herumstöbert und dort einen Science-Fiction-Roman entdeckt. Der Titel des Romans lautet Fünfzig abwärts, Cincuenta y retrocediendo, verfasst von einem gewissen Filencio Salmón, laut Boyles Kurzgeschichte der bedeutendste Schriftsteller Puerto Ricos auf dem Gebiet der spekulativen Fiktion, tatsächlich aber ist auch der Autor nichts weiter als eine Fiktion. Fünfzig abwärts, also die Geschichte in der Geschichte, handelt von einer Lebensform, in der ein Alter von 50 Jahren den Gipfelpunkt des Daseins bestimmt. Hat man dieses Alter erreicht, geht es wieder abwärts, zurück in die Jugend, danach ins Kindesalter, man wird schließlich wieder ein Baby und verschwindet im Nichts.
     Auf den ersten Blick eine schöne Vorstellung. Warum kann das nicht auch bei uns so sein, fragt man sich. Die Wechseljahre wären dann keine Trendwende zum Schlechten, hin zu körperlichem Zerfall und eingeschränkter Lebensqualität, sondern der absolute Höhepunkt einer menschlichen Existenz, oder auch ein magisches Plateau, wie Boyle es Filencio Salmón beschreiben lässt. Man wüsste, wie eine Jugend sich anfühlt und dürfte sie ein zweites Mal durchleben. Wäre das nicht wunderbar?
     Nein, das wäre es nicht. Eine solche Zählweise unseres Lebensalters hätte nämlich ihre Tücken. So gibt es in Boyles Geschichte ein Pärchen, bei dem er zum ersten Mal einunddreißig ist und sie zum zweiten Mal neunundvierzig. Zunächst läuft alles prima. Sie erleben eine gute Zeit – bis sie eines Tages wieder zwölf Jahre alt ist und sich ihr Busen zurückbildet. Der Mann, der nun zum zweiten Mal zweiunddreißig ist, fühlt sich daraufhin wie ein Kinderschänder. Zuvor war er bereits Vater seiner sich verjüngenden Eltern geworden. Beides wünscht man sich nicht wirklich.
     Dass das Leben nicht besser verläuft, wenn man den Alterungsprozess auf den Kopf stellt, zeigt auch eine Kurzgeschichte von F. Scott Fitzgerald: Der seltsame Fall des Benjamin Button (Orig. The Curious Case of Benjamin Button). Bekannt wurde sie durch die Verfilmung mit Brad Pitt und Cate Blanchett in den Hauptrollen. Sie handelt von einem Menschen, der als alter Mann im Körper eines Babys geboren wird und sich im Laufe seines Lebens zu einem Baby im Körper eines alten Mannes entwickelt; eine Geschichte mit unerfreulichem Anfang und wenig erbaulichem Ende: als Baby ein Freak, als alter Mann ein schlimmer Pflegefall, Normalität und Liebesglück nur in den mittleren Jahren. So funktioniert das also auch nicht.
     Nehmen wir einen dritten literarischen Anlauf, mit dem Roman Pfeil der Zeit (Orig. Time‘s Arrow) des englischen Schriftstellers Martin Amis. Sein Buch erzählt die Lebensgeschichte des amerikanischen Arztes Todd Friendly, aber nicht von vorn, sondern von hinten. Ein Rückblick also? Nein, auch das nicht. Amis drückt auf »Rewind«, er lässt das gesamte Leben rückwärts laufen, also nicht nur das seines Protagonisten. Junge Menschen werden zu Kindern, Kinder werden zu Babys, und die Babys schlüpfen eines Tages in die Körper junger Frauen. Dialoge beginnen mit ihrem Schluss und enden mit ihrem Anfang. Der Mülleimer wird zu einer Wundertüte, das Klo zu einem Ort, den man erleichtert aufsucht und mit drückendem Schmerz im Unterleib verlässt. US-Präsident John F. Kennedy wird einfach in die begeistert jubelnde Menge von Dallas gesetzt und schreitet danach zu großen Taten. Das Moderne verschwindet, dafür kommt über den Großstädten nach und nach der Sternenhimmel wieder zum Vorschein. Klingt – bis auf die Stelle mit dem Klo – erst einmal gar nicht so schlecht.
     Doch so schön die von Amis verdrehte Welt zuweilen scheint, in seinem Buch Pfeil der Zeit geht der Schuss gewaltig nach hinten los. Denn Todd Friendly, seine Hauptfigur, entpuppt sich als ein deutscher KZ-Arzt, der nach dem Untergang des Hitlerreiches mit falschem Namen in die USA flüchten konnte. Rückwärts erzählt wird er sich seiner grauenhaften Taten in keiner Weise bewusst und Auschwitz zu einem Ort, an dem Kinder, Frauen und alte Menschen hergestellt werden – aus Feuer und Gas.
     An dieser Stelle möchte ich einen Punkt setzen. Denn ich merke, je mehr ich mich in solche Gedankenspiele ums Älter- oder Jüngerwerden verrenne, umso fataler das Ende. Realistisch sind sie ohnehin nicht. Eher würde es der Menschheit gelingen, eine Zeitmaschine zu erfinden, die es einem ermöglichte, in eine ferne Zukunft zu entfliehen, in der es das Problem des Älterwerdens nicht mehr gibt. Doch auch hier zeichnen die Schriftsteller ein düsteres Bild. Wie zum Beispiel Aldous Huxley in seinem Roman Schöne neue Welt (Orig. Brave New World), in dem die Menschen bis zu ihrem Lebensende zwar stets gesund und leistungsfähig bleiben und dann relativ schnell und schmerzlos von der Bühne verschwinden, jedoch nur, weil ihnen eine Überdosis der Droge Soma verabreicht wird, bevor sie sich Krückstock schwingend über die »Jugend von heute« mokieren können.
     Noch gruseliger ist das Szenario, das H.G. Wells in seinem 1895 veröffentlichten Roman Die Zeitmaschine (Orig. The Time Machine) entworfen hat. Er lässt seine namenlose Hauptfigur vom viktorianischen England aus in das Jahr 802.701 reisen, in dem ein Völkchen namens Eloi die Erde bewohnt: scheinbar sorgenfreie Wesen, dem heutigen Menschen sehr ähnlich. Jedoch: Keiner von ihnen muss mehr arbeiten, und keiner von ihnen scheint sehr alt zu sein. Wie ist das nur möglich?, fragt der Zeitreisende sich und entdeckt, dass es neben den Eloi noch die sogenannten Morlocks gibt, hässliche, affenartige Kreaturen, die unter Tage leben und sich die Eloi halten wie der Bauer das Vieh. Kurzum: Man landet auf einem Grill, bevor man in dieser Welt alt wird. Menschlicher wird es erst, als die Hauptfigur von Mr. Wells noch weiter in die Zukunft reist, weil es dann keine Menschen mehr gibt.
     Große Literaten, phantasiereiche Science-Fiction-Autoren. Oft sind sie der Zeit weit voraus, nehmen in ihren Erzählungen wichtige Erfindungen und gesellschaftliche Entwicklungen vorweg. Was das Älterwerden betrifft, bieten sie uns jedoch keine brauchbare Lösung. Finden wir uns also damit ab: Wir werden älter und älter und müssen das akzeptieren. Ein bisschen Trost spendet uns vielleicht der eingangs erwähnte US-Schriftsteller T.C. Boyle. Sein 2000 verfasster Zukunftsroman Ein Freund der Erde spielt im Jahre 2025, also im kommenden Jahr, in einer Zeit, in der man, so Boyle, dank den Fortschritten in der Medizin mit 75 Jahren noch lange nicht zum alten Eisen gehört, sondern zu den sogenannten Jungalten, die ohne Viagra Supra oder Penisimplantate noch jede Menge Spaß haben können. Doch so vital die Menschen in dem Boyle-Roman sind, so kaputt ist die Welt um sie herum. Der Treibhauseffekt hat die Erde in einen unwirtlichen Platz verwandelt, wo ein Unwetter dem nächsten folgt. Im Loiretal wird nicht mehr Wein angebaut, sondern Reis. Die meisten Säugetiere sind ausgestorben. In grauen, feuchten Hochhäusercañons leben unzählige Hautkrebspatienten, die über Tiere bzw. über die Natur und die Welt, wie sie früher war, nicht mehr wissen, als ihre Computer sie wissen lassen. Insgesamt bevölkern elfeinhalb Milliarden Menschen die Erde. Sie streiten sich um ein Essen, das auch nicht mehr ist, was es mal war.
     Wenn sich die Welt wirklich so entwickeln sollte, ob nun im Jahr 2025 oder erst 2040, kann man nur darauf hoffen, früh genug zu sterben.
Der leicht modifizierte Text erschien in seiner ursprünglichen Fassung in Kerle im Klimakterium von Holger Reichard und Karsten Weyershausen (Schwarzkopf & Schwarzkopf, Berlin 2012).