Seit über 40 Jahren haue ich in die Tasten. Mal mehr, mal weniger. Angefangen hat alles mit Lyrik und Prosa, etwa Mitte der 1980er Jahre, noch auf einer kleinen Reise-Schreibmaschine von privileg. Die Boomer werden sich erinnern. Es folgten die ersten Veröffentlichungen in Anthologien sowie journalistische Arbeiten für Stadtmagazine und die Braunschweiger Zeitung. Ab Anfang der 1990er Jahre war ich als Werbetexter für Unternehmen und Werbeagenturen unterwegs und befüllte unzählige Werbebriefe, Produkt-Flyer, Broschüren, Kundenmagazine und Plakate mit Buchstaben, später auch Newsletter und Internetseiten. Nebenbei verfasste ich ein ganzes Drehbuch (Die Marx Brothers in Hamburg), ein Kurzhörspiel für den WDR (Schwarz auf Weiß), werkelte an Roman-Ideen über Guiseppe Garibaldi und den Mauerfall herum und unterstützte überforderte Sachbuchautoren. Im Frühjahr 2009 erschien im Berliner Verlag Schwarzkopf & Schwarzkopf dann endlich mein erster Essay-Band und schon bald darauf noch weitere Bände in Zusammenarbeit mit dem verehrten Kollegen Karsten Weyershausen. Über 40 Jahre! Es wäre zwar nicht nützlich, aber schon interessant zu wissen, wieviel Prozent der Erdoberfläche sich mit meinen getippten Buchstaben bedecken ließen, würde man sie in einer Schriftgröße von 72 Punkt nebeneinanderlegen. So viel zur Quantität.
     Was die Qualität des Geschriebenen betrifft, wünschte ich, dass viele meiner jüngeren Veröffentlichungen ein größeres Publikum gefunden hätten. Andererseits wäre ich froh, wenn das Internet – anders als viele behaupten – so manches schnell vergessen oder gar nicht erst entdecken würde. Einige Elaborate aus dem Eozän meines Schriftstellerlebens zum Beispiel, erste spätpubertäre Gedichte oder auch die Geschichte von Ollu Kawollu, dem König der Nasen. Beides lässt sich noch heute in der virtuellen Welt aufspüren. Die Gedichte mit relativ wenig Aufwand über Google Books, Ollu Kawollu mit etwas mehr Aufwand über archive.org. Um Euch die lästige Detektivarbeit zu ersparen, präsentiere ich Euch hier die Geschichte von Ollu Kawollu (siehe weiter unten), zweifellos der albernste und sinnbefreiteste Text, den ich je geschrieben habe. Warum bringt man so etwas zu Papier? Diese Frage ist durchaus berechtigt, aber es gibt eine Erklärung.
     Zu Beginn der 1990er Jahre arbeitete ich in einer kleinen Werbeagentur, deren Spezialität es war, lustige Speisekarten für die damals blühende Braunschweiger Erlebnis-Gastronomie zu konzipieren. So auch für Charly’s Tiger in der Wilhelm-Bode-Straße, eine Lokalität, die jedem waschechten Braunschweiger ein Begriff ist, und ganz sicher auch vielen Zugezogenen. Denn es gibt sie inzwischen seit über 30 Jahren. Ich erinnere mich noch gut an die Eröffnungsfeier im Dezember 1990 und daran, wie kurz zuvor in der Agentur unter enormen Zeitdruck an der umfangreichen Speisekarte gebastelt wurde. Wenige Stunden vor Druck-Abgabetermin war immer noch eine Seite mit Inhalt zu füllen. Eine einzige Seite. Nur mit was? Getränke und Speisen waren ausführlich beschrieben, das Grußwort war fertig, alle Illustrationen erstellt, die Zitate komplett. Deshalb wurde ich beauftragt, auch etwas beizusteuern und verfasste unter größter Zeitnot die Geschichte von Ollu Kawollu. Wie gesagt, der albernste und sinnbefreiteste Text, den ich je geschrieben habe – und sehr wahrscheinlich das mit weitem Abstand meistgelesene Werk meiner 40jährigen Autorenlaufbahn. Denn der Text in der Speisekarte wurde über drei Jahrzehnte hinweg nicht verändert (lediglich die Preise, die allerdings ständig). Und die Hütte war – vor allem in den ersten Jahren – fast immer gerammelt voll.
     Als ich vor vier, fünf Jahren das letzte Mal Charly’s Tiger besuchte, lag dort noch immer die Speisekarte mit Ollu Kawollu auf dem Tisch. Es wäre zwar nicht nützlich, aber schon interessant zu wissen, wie viele Menschen sich in einem Zeitraum von 30 Jahren beim Warten auf das bestellte Essen oder Getränk die Zeit mit der Speisekarte bzw. meinem König der Nasen vertrieben haben. Ob es über die lange Zeit hinweg mehr Menschen waren als Braunschweig Einwohner hat? Ich bin mir ziemlich sicher, dass wir hier eher in der Kategorie München oder Hamburg denken müssen, vielleicht sogar in der Kategorie Guangzhou. Es dürfte zumindest keine Übertreibung sein, wenn ich behaupte, dass Ollu Kawollu heute als Klassiker der Lokalliteratur gilt, und weil der Text nach über drei Jahrzehnten schmackhaft zubereiteter Bratkartoffeln und Millionen frisch gezapfter Biere nun endlich nicht mehr Bestandteil der Speisekarte ist, dürften die Rechte daran wieder bei mir liegen. Ich will Euch das vermeintliche Kunstwerk daher nicht länger vorenthalten, sofern Ihr es nicht ohnehin schon etliche Male gelesen habt.
     Hier ist es:

An EinfallsReich-Art Menue-Card-Production presents

Ein Tiger flog übers Affennest

cast:
Ollu Kawollu …….. Ollu Kawollu
Illi Kawilli …….. Illi Kawilli
Gemeine Leierschnepfe …….. Jack Nicholson

Das Tropentreffen der summatrischen Nasenaffen e.V. war ein rhinologischer Erfolg. Das zuvor fein mit Lianen verzierte Buffet war bis auf die letzte Aprikosenstulle verzehrt. Die Salat-Safari hatte ihren appetitlichen Weg durch unzählige Fruchtschalen gezogen und auch die selbst zubereitete, aber berüchtigte Baumhaus-Bowle hatte ihre Abnehmer gefunden. Ollu Kawollu, der König der Nasen (wie er im Dschungel-Jargon genannt wurde), machte ein Bäuerchen; das schlabbernde Geräusch seines Sinnesbeutels war fast bis Djarkarta zu hören. Erst in der letzten Regenzeit konnte er unter dem tobendem Applaus wackelnder Riechorgane den öffentlichen Teil der Wipfelkonferenz abschließen. Der vereinbarte Territorialvertrag mit der gemeinen Leierschnepfe – ein ungeliebter Nachbar der Nasenaffen – stand perfekt. Der Dschungel wurde in Baumsektoren aufgeteilt: Die Berührungsängste zwischen riechenden Punching-Bällen und leiernden Gezwitscher waren nunmehr unbegründet. Ein Problem war für Ollu Kawollu aber noch zu bewältigen – der Friedensvertrag mit dem monarchistisch gesinnten KönigsTigern musste abgeschlossen werden, für eine gesicherte Zukunft im Regenwald! Denn lange Zeit war das reißerische Reißen der getigerten Großkatzen den Affen ein Dorn in der Nase. Zu viele dieser Nasen nämlich fielen der skrupellosen Organplünderei zum Opfer; ein Geschäftstüch-Tiger verhökerte diese als Eierwärmer nach Hongkong oder als luxuriöse Fingerpelze für verwöhnte Millionärsfrauen in Amerika. Ollu Kawollu hatte oft mit seiner Nasenaffenfrau Illi Kawilli dieses brisante Thema beschnuppert, und der in seiner Vorrede geäußerte Vorschlag, sich zu Friedensverhandlungen in der Provinz bereit zu erklären, wurde jubelnd begrüßt. In einer offiziell anerkannten Tiger-Botschaft in Braunschweig sollten nun graumelierte Königsnasen und gelbgetigerte Großtatzen zusammenkommen. Was daraus wurde? Dazu mehr demnächst in dem Fortsetzungdrama »Nasablanca« mit Ingrid Tatzmann und Sumphrey Tigert – hier in Charly’s Tiger.